CJD – Cool in Jedem Dilemma: Politische Bildungsfahrt mit 11 Jugendlichen nach Berlin - Irgendwas ist immer!

09.09.2022 CJD Rhein-Pfalz/Nordbaden « zur Übersicht

Ein Tatsachenbericht von Ralf Wirth

Liebe Leserinnen und Leser,

normalerweise erwartet Sie hier sachliche und informative Berichterstattung aus den Standorten des CJD. Doch, so bin ich der Auffassung, außergewöhnliche Ereignisse erfordern eine außergewöhnliche Form der Dramaturgie und der Darstellung. Doch trotzdem kurz zu den Fakten: Mitglied des Bundestags Thomas Hitschler (SPD) hat dem CJD 14 Plätze bei einer Bürgerfahrt nach Berlin zur Verfügung gestellt. Vier Tage und drei Nächte in der Bundeshauptstadt Berlin – die Stadt, die auch mal gerne schläft. Es war ein reich gefülltes und abwechslungsreiches Programm, was auf die Teilnehmenden und die Betreuer wartete. Doch zum Anfang.

Datum/Zeit: 24.08.2022/9:27 Uhr

Ort: Mannheim Hauptbahnhof, Eisstand

Das Diensthandy klingelt – vermutlich ein Anruf. Ich begrüße den Anruf professionell aber herzlich. Ohne die tageszeitlich angepasste Grußformel schildert mir meine Kollegin Hildegard Lehnen aus Speyer sofort ihr Problem. Speyer Bahnhof – die S-Bahn nach Mannheim fällt aus. Sie werden es nicht schaffen bin 10:32 Uhr, der geplanten Abfahrt des ICE nach Berlin, auf dem Bahnsteig zu sein. Die Deutsche Bahn bittet um Verständnis – erhält es aber nicht. Ich bestätige meiner Kollegin Hildegard, dass sie eine realitätsbezogene Einschätzung der Sachlage vorgenommen hat, und, dass es ein Problem ist. Hildegard ist dankbar für die lobenden Worte, das spüre ich, und beendet das Telefongespräch abrupt. Meine innere Gelassenheit weicht Zentimeter für Zentimeter einer gewissen Unruhe – nur um das Wort Panik zu vermeiden. Eine Kugel Eiscreme bahnt sich den Weg durch meinen Gaumen. Er nimmt den Geschmack des naturidentischen Aromastoffs von Pistazie wahr. Der Rest der zweiten Eiskugel, Erdbeere, hat sich in den Abgrund gestürzt und sich somit der Aufgabe, dem Käufer Genuss zu bereiten, entzogen. Hemmungslos gibt sich das mit künstlichen Farbstoffen versehene Erfrischungsprodukt den Wespen hin. Er erneut ertönt der Rufton meines Handys, der an eine Fahrradklingel auf Extasy erinnert. Es ist Hildegard. Ihre Stimme klingt entspannt – sicher, weil ich es bin, mit dem sie telefoniert. Der, der immer Herr der Lage ist. Es ist nicht leicht für mich so großartig zu sein, aber passt schon. Ich mach es gerne für die Welt. Der Vater einer Teilnehmerin hat einen Bus. Er holt die Truppe am Bahnhof Speyer ab und fährt sie nach Mannheim. Problem gelöst. Danke an mein Karma.

In der Zwischenzeit sind auch meine Groupies, die ab Mannheim mitfahren, eingetroffen. Und auch die Gruppe aus Speyer ist rechtzeitig eingetroffen.

10:37 Uhr – der Zug hat 5 Minuten Verspätung – gilt aber in der Statistik als pünktlich. Das verstehe wer will. Wir fahren ab. Dem geübten Bahnfahrer fällt sofort auf, dass der Zug in die falsche Richtung fährt. Da kommt auch schon die Durchsage. Die Toiletten im Zug sind alle ausgefallen. In Frankfurt soll versucht werden ,Wasser aufzufüllen und damit das Problem zu beheben. Für die Unannehmlichkeiten bittet die Deutsch Bahn um Verständnis – bekommt es aber nicht.

11:22 Uhr, Frankfurt Hauptbahnhof

Der Zug wird einen längeren Aufenthalt haben. Heinrich Demmerle, Begleitperson von der SPD für die gesamte 47-köpfige Gruppe der Berlinfahrer und ich rauchen erst mal eine. Heinrich ist cool. Wir tauschen uns ein wenig aus und warten auf die Abfahrt. Scheint länger zu dauern, also, noch eine. Es kommt Bewegung in die Szene. Fahrgäste verlassen den Zug. Die Durchsage klärt alles auf. Die Klos seien leider nicht wieder in Gang zu setzen. Deshalb sollen bitte alle aussteigen und den nächsten Zug nehmen. Der hält am gleichen Gleis.

Die Deutsche Bahn bittet für die Unannehmlichkeiten um Verständnis – bekommt es aber nicht. Heinrich und ich philosophieren, bei einer weiteren Kippe, über die Deutsche Bahn. Ich sage, dass das nicht gut ist. Voller Überraschung stimmt er mir zu. Es ist schön, wenn ich alles weiß und im Griff hab.

Es scheint sich in Frankfurt rumgesprochen zu haben, dass ich mit meinen Groupies nach Berlin unterwegs bin. Die Fanmeile, die DB nennt es Bahnsteig, füllt sich. Alle wollen mit uns im Zug sein. Ich kann es verstehen. Verunsichert mich jedoch ein wenig. Alle sammeln sich an der 2. Klasse, dort sollten wir auch sitzen Aber es muss gehandelt werden, denn unsere reservierten Plätze sind ja im neuen Zug nicht verfügbar. Als stille Post gebe ich rum: Das CJD nimmt den Klassenkampf auf. Wir stürmen den vorderen Zugteil und gehen dort in den wohlgepolsterten Sitzstreik. Diesen Plan zum taktischen Angriff auf das Tarifsystem der Deutschen Bahn hat eine weitere Mitreisende aus der SPD-Besuchergruppe im fortgeschrittenen Lebensalter, nennen wir sie Frau Mayer, mitbekommen. Wir bahnten uns den Weg durch die ahnungslosen Sparticket- und Platzkarteninhaber auf dem Bahnsteig. Gefolgt von Frau Mayer, die ihren Rollkoffer geschickt als Hüftstütze und Räumungsschild einsetzt. Der Zug fährt ein, schemenhaft erkennen wir durch die abgedunkelten Fenster den Luxus, der uns erwartet. Frau Mayer schubst geschickt einige meiner Groupies zur Seite, um so schnell wie möglich den geplagten Podex sanft in die komfortablen Sitze zu drücken. Es finden sich für fast alle Plätze. Es gibt grüne WC-Leuchten, ein Anblick, den wir seit Mannheim nicht hatten. Sie wechseln von grün auf rot und wieder zurück auf grün, um wieder auf rot zu gehen usw. Dieses Farbenspiel und die entspannten Minen der Reisenden sind die kleinen Freuden eines Schaffners, der auch alsbald uns kontrollierte und sein mürrisches Verständnis für unsere missliche Lage kundtut.

Endlich BERLIN! Es scheint alles gut zu werden. Transfer ins Hotel, Abendessen und die klare Ansage unserer Betreuerin vom Presseamt des Bundestages für den nächsten Tag. 

Eine kleine CJD-Gruppe zieht los, um den ehemaligen Todesstreifen an der Bernauer Straße und die Mauerreste zu erkunden. Hier kann ich wieder mit meinem Wissen die jungen Leute beeindrucken. Schon erstaunlich, was sich so in 55 Jahren ansammelt im Hirn. Einer aus der Teilnehmergruppe übernimmt die Navigation zurück mit U- und S-Bahn. Gegen Mitternacht sind wir wieder im Hotel.

Datum/Zeit: 25.08.2022/8:50 Uhr

Ort: Berlin, Neukölln

Abfahrt mit dem Bus in Richtung Bundestag, Kontrolle, Vortrag auf der Besuchertribüne im Anschluss Gespräch mit einem Mitarbeiter des Abgeordneten Hitschler.

Es fehlt jemand!

Zum Glück erreiche ich den Teilnehmer aus der CJD-Gruppe telefonisch. Er wäre um fünf vor neun an der Abfahrtsstelle gewesen, aber keiner war da. Kein Wunder. Wir waren da schon fünf Minuten unterwegs. Er kommt nach zum Reichstagsgebäude. Im Gespräch mit dem Mitarbeitenden des Abgeordneten wurden die Probleme der Jugendlichen in der beruflichen Bildung aus der Sicht des Sozialarbeiters dargelegt. Vor allem die unterschiedliche Bezahlung für die gleiche Ausbildung ist vielen Jugendlichen nicht zu vermitteln. Frau Mayer – Sie erinnern sich – ist dagegen. Geschickt wurde retourniert und mit Applaus von den anderen gepunktet.

Beatrice Döll ist die Mitarbeiterin des Abgeordneten Thomas Hitschler, mit der ich bei der Vorbereitung der Fahrt am meisten zu tun hatte. Sie hat bis zur letzten Minute die Änderungswünsche in der Teilnehmerliste angenommen. Denn mache sind abgesprungen oder wurden positiv auf Covid getestet. Dafür danke ich Frau ihr mit Blumen und einer Ausgabe der CJD Jubiläumsschrift.

Im Anschluss Rundgang Brandenburger Tor, Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und Rundfahrt durch Berlin. Besonderer Programmpunkt: Besuch des Daches auf dem neuen Stadtschloss. Geplante Weiterfahrt zum Essen: 17:45 Uhr.

Es fehlt jemand!

Nun raten Sie mal wer? Frau Mayer. Die akademische Viertelstunde wird gewartet, sie taucht nicht auf, also auf zum Restaurant.

Die kleine CJD-Gruppe vom Vortag wollte früher weg vom Essen, um auf eigene Faust noch was von Berlin zu sehen. Mein Glück, dann komm ich vielleicht auch ein bisschen früher ins Land der Träume. Weit gefehlt. Gegen 21:30 Uhr erreicht mich der Ruf nach weiteren Attraktionen. Es geht über die wunderschöne U-Bahn-Station zum Ku´damm, weiter zum Breitscheidplatz mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zum Bahnhof Zoo. Die Truppe wollte mit dem Bus zurückfahren. Aber bis die Entscheidung gefallen war, waren die Busse weg. Also, Navigation ins Hotel: Chefsache. Natürlich hab ich mich voll verfranzt, der Azubi hat das gestern irgendwie besser im Griff gehabt. Ankunft im Hotel wieder gegen Mitternacht.

Datum/Zeit: 26.08.2022/8:30 Uhr

Abfahrt

Es fehlt jemand!

Diesmal ein anderer Groupie. Er hat die Nacht bei einem Freund in Berlin verbracht und sie haben verschlafen. Er kommt nach zum „Tränenpalast“. Als wir wieder alle komplett sind, geht es weiter mit dem Bus nach Potsdam. Ein Programmpunkt ist ausgefallen, deshalb hätten wir die Gelegenheit gehabt Potsdam zu besichtigen. Aber, und der geneigte Leser wird ahnen können was passiert ist: Es gab in sehr, sehr kurzer Zeit eine Wahnsinnsnachfrage nach Regenschirmen. Das Wasser stand auf den Straßen. Also, ich habe von Potsdam nur das Café am Busbahnhof gesehen.

Aber wie alles im Leben hatte auch das seinen Sinn und seine Berechtigung. Wie gut, dass mein Schutzengel auf Zack ist. Denn eine Teilnehmerin musste sich heftig übergeben, litt unter Atemnot, war schon blau angelaufen und hatte als Asthmatikerin zudem ihr Spray vergessen. Rettungswagen, Notarzt, das ganze Programm. Die Gruppe ist sehr besorgt um unsere Teilnehmerin, aber wir müssen weiter.

Meine Kollegin Hildegard Lehnen geht mit ins Krankenhaus. Für den Rest gibt es eine Rundfahrt mit dem Schiff auf dem Wannsee. Das Wetter hat aufgeklart und die gesamte Gruppe kann auf dem Oberdeck die Fahrt vorbei an Schlössern und Villen mit Geschichte genießen. Zwischendurch immer wieder Anrufe bei der Kollegin im Krankenhaus, aber nichts Neues. Als wir wieder kurz vor der Rückfahrt nach Berlin sind und immer noch nicht wissen, ob, wann und wie wir unser krankes Küken wieder holen können, ist für mich der Punkt erreicht, meine Führungskraft Andzelika Eisenhut zu informieren. Es ist Freitagabend 20:30 Uhr und die Frage steht im Raum, wie wir unsere Teilnehmerin wieder nach Berlin bekommen, wenn sie denn entlassen wird. Ich frage, ob Frau Eisenhut mir über Carsharing ein Auto in Berlin buchen kann, damit ich ggf. die TN im Krankenhaus abholen kann.

Frau Eisenhut hat mich mit allem versorgt, was ich brauchte um die Teilnehmerin holen zu können. Hier dachte ich: WAS SIND WIR DOCH FÜR EINE GEILE ORGANISATION! Unrasiert und weit weg von der Heimat bekam ich alles was nötig ist, um handlungsfähig zu bleiben. Abfahrt mit dem Bus Richtung Hotel. Wir sind 10 Minuten unterwegs, da klingelt das Telefon. Die Teilnehmerin kann abgeholt werden. Im Hotel angekommen, ein Auto gebucht, schnell mit dem Taxi zum Standort – das Auto ist nicht da. Hin und her mit der Hotline schließlich ist das Auto gefunden, wir holen die Teilnehmerin ab und alles ist gut für die bevorstehende kurze Nacht und die Rückfahrt nach Hause.

Datum/Zeit: 27.08.2022/08:30 Uhr

Abfahrt zum Bahnhof

Es fehlt jemand!

Diesmal wieder der junge Mann, der bei Freunden übernachtet hat. Wir verabreden uns mit Treffpunkt Hauptbahnhof Gleis 4. Mit der Rezeption wird noch geklärt, dass ich seine Habseligkeiten aus dem Zimmer holen kann.

Unsere Patientin ist soweit auch fit, dass sie die Bahnfahrt durchhalten kann. Der Rest meiner Groupies freut sich auf die Heimfahrt. Der Zug fährt ein, rein ins Abteil und fünf Stunden später nimmt uns Frau Eisenhut in Mannheim in Empfang.

Unser Begleiter Heinrich Demmerle meint noch, dass er eine so chaotische Fahrt schon lange nicht mehr hatte, aber mit dem Team aus dem CJD würde er jederzeit wieder reisen würde. CJD Cool in Jedem Dilemma!

Text: Ralf Wirth, Bildungsbegleiter im CJD Ludwigshafen